Wenn ein Mensch ein Psychotrauma entwickelt, ist dieses die Folge eines belastenden Lebensereignisses, welches

  • von der Person als unmittelbare Gefahr für ihre körperliche und seelische Unversehrtheit (oder die einer anderen Person) erlebt wurde,

  • mit überwältigenden Gefühlen von Angst, Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden war,

  • deshalb in dieser Situation gedanklich und emotional vom Gehirn nicht verarbeitet werden konnte und

  • für dessen Verarbeitung auch in der Folgezeit nicht ausreichend Ressourcen in der Umwelt der Person oder der Person selbst vorhanden waren, z. B. weil das belastende Ereignis über einen längeren Zeitraum andauert bzw. sich wiederholt oder die Person noch ein Kind ist.

Belastende Lebensereignisse lassen sich unterteilen in akzidentielles Trauma (Zufallstrauma z. B. Unfall oder Naturkatastrophe) und interpersonelles Trauma (vorsätzlich von anderen Menschen gemachtes Trauma/ Gewalt). In Pobershau sind interpersonelle Trauma offenbart worden.

Menschengemachte Traumata haben ein 6-7fach höheres Risiko für die Entwicklung einer Folgestörung bei der betroffenen Person. In Zusammenhang mit den Geschehnissen in Pobershau kann man zudem von Sekundärtraumata (z. B. durch Erzählungen des Traumas an Angehörige oder Freunde) und einem kollektiven Trauma (ein Trauma, welches sich auf eine Gruppe auswirkt) sprechen.

Wie entwickelt sich nun ein Trauma?

Ein traumatisches Erlebnis löst in uns eine massive Stressreaktion aus, Körper und Geist sind in Alarmbereitschaft, unser Körper schaltet auf automatische Steuerung um, um uns und/oder andere zu schützen. In uns allen sind evolutionär bedingt drei Reaktionen auf die traumatische Situation möglich: Kampf, Flucht und Erstarren. Unser Körper verfällt in das Erstarren, wenn die Möglichkeiten für Kampf- oder Fluchtreaktionen nicht vorhanden oder ausgeschöpft sind und das belastende Ereignis weiter anhält bzw. sich wiederholt. Gleichzeitig verändert sich auch die Wahrnehmung der Person in der Situation - zu sich selbst, zur Zukunft oder auch zur Tatperson. Unser Gehirn kann bei einer akuten Gefahr nur einen Teil der wahrgenommenen Informationen und Reize verarbeiten, was dazu führen kann, dass sich Menschen nur noch schemenhaft oder bruchstückhaft an Traumata erinnern können, was zu Selbstzweifeln und damit zu jahrelangem Schweigen führen kann. Sexueller Missbrauch gegen Kinder und Jugendliche hat das höchste Risiko, Traumata und Folgestörungen zu entwickeln. Es ist nicht unbedingt die Schwere oder Grausamkeit der erlebten Handlungen, die Kinder traumatisiert, sondern das Erleben von Hilflosigkeit und Loyalitätskonflikten, vor allem gegenüber (nahen) Bezugspersonen.

Welche Folgen haben Traumata?

Jedem Menschen können Traumata widerfahren. Die Reaktion von Menschen auf akute, belastende Ereignisse kann jedoch ganz unterschiedlich aussehen. Die langfristige Verarbeitung der traumatischen Erfahrung hängt wiederum von vielen personellen und Umweltfaktoren ab. Entsprechend individuell sind auch die Auswirkungen, die sich nach dem Erleben traumatischer Ereignisse entwickeln können. Die Folgen können sich auf körperlicher, seelischer und emotionaler Ebene ausprägen. Beispielhaft seien hier genannt: Angst, Kopf- & Rückenschmerzen, Reizbarkeit, Wiedererleben der belastenden Situation, Schlafstörungen, Albträume, Schuld- und Schamgefühle, Depression, sozialer Rückzug.

Meist entstehen mit dem Trauma auch Trigger, die ein plötzliches, intensives Wiedererleben des traumatischen Erlebnisses auslösen. Das können z. B. Gerüche oder Geräusche sein oder Personen, die Ähnlichkeiten mit der Tatperson haben.

Ein Trauma, das uns von einem nahestehenden Menschen zugefügt wird, wirkt sich am schlimmsten aus und hat in aller Regel auch über Jahre hinweg weitreichende Folgen. Wir können lernen, mit den Auswirkungen umzugehen, doch die Erfahrung wird als Teil unserer Lebensgeschichte bleiben.

Was ist passiert in der Kirchgemeinde Kühnhaide-Pobershau?

In der Kirchgemeinde Kühnhaide-Pobershau gibt es aus unserer Sicht aufgrund der Offenbarung von sexuellem Missbrauch gegen Mädchen der Gemeinde drei traumatisierte Gruppen:

1. Primär traumatisierte Personen: Die von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend betroffenen jungen Frauen. Sie sind diejenigen, die die Missbrauchserfahrung erlebt und überlebt haben.
Sie haben uns mutig ihre Geschichte erzählt (möglicherweise auch, um Übergriffe an anderen Kindern zu verhindern) und ihren jeweils ganz persönlichen Umgang mit den Auswirkungen des Erlebten gefunden. Sie haben darüber hinaus die Kirchgemeinde bei der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle unterstützt.

2. Sekundär traumatisierte Personen: Die Gruppe der Angehörigen der betroffenen Frauen - Familie, Nachbarschaft, Freundeskreis. Diese Gruppe war nach der Offenbarung des Missbrauchs ebenfalls mit Gefühlen von Ohnmacht, Angst, Ekel, Wut und Hilflosigkeit konfrontiert, möglicherweise auch mit Schuld- und Schamgefühlen.

3. Die kollektiv traumatisierten Personen der Institution Kirche und des Dorfes: Auch sie setzt sich mit Fragen zu ihrer Verantwortung auseinander. Der Missbrauch konnte innerhalb ihrer Strukturen überhaupt erst geschehen. Symptome eines Traumas wie Vermeidung, Verleugnung, Bagatellisierung, Schuld- und Schamgefühle, aber auch Schuldzuweisungen und Abwertungen, sozialer Rückzug, Traurigkeit, Ohnmacht und Hilflosigkeit sind auch hier vorhanden.

Sie alle - Betroffene, Angehörige und Institution - brauchen weder Aktionismus noch Bagatellisierung. Zur Auf- und Verarbeitung sind ein ruhiges, besonnenes Vorgehen aller sowie das gegenseitige Verständnis der verschiedenen Gruppe für die jeweils unterschiedlichen Auswirkungen der Missbrauchsvorfälle und die damit verbundenen Bedürfnisse besonders hilfreich.

Wenn die Beteiligten miteinander sprechen, sollten sie sich bewusst sein, dass jeder von ihnen in einer anderen Phase der Traumaverarbeitung sein kann und somit andere Bedürfnisse hat. Der übliche Verarbeitungsprozess nach Erleben eines Traumas gestaltet sich wie folgt:

  1. Schockphase
  2. Reflexionsphase/ Aufarbeitung
  3. Neuorientierung
  4. Integration in den Alltag

Eine Gemeinschaft lebt davon, dass Menschen miteinander in Kontakt sind, sich füreinander interessieren, andere Sichtweisen versuchen zu verstehen und nach gemeinsame Grundregeln leben.

Der Kirchenvorstand hat den Aufarbeitungsprozess angestoßen und ist nach wie vor daran interessiert, alle Interessen der Kirchgemeinde wahrzunehmen und die Mitglieder miteinander auszusöhnen.

Das bedeutet auch, dass die gesamte Gemeinschaft gefordert ist, die Traumatisierung auf verschiedenen Ebenen wahrzunehmen, anzuerkennen und zu verarbeiten.

Als traumapädagogischer Grundsatz gilt, dass traumatisierte Menschen, die einen Kontrollverlust erlebt haben, vor allem drei Dinge brauchen: Transparenz, Information und Kontrolle.

Quellen

  • Lydia Hantke & Hans-Joachim Görges - „Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik“. Junfermann Verlag. 2012
  • Breymaier, Bettina & Schmid, Marc - „Psychoedukation in der Traumapädagogik: Wissen ermöglicht Selbstverstehen“ In: traumapaedagogik.elearning-kinderschutz.de. 2022
  • Prof.in Dr.in Luise Reddemann & Dr.in Cornelia Dehner-Rau - „Trauma – Verstehen. Bearbeiten. Überwinden. Ein Übungsbuch für Körper und Seele“. Trias-Verlag. 2020
  • Beate Kriechel - „Für immer traumatisiert? Leben nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit“. Mabuse-Verlag. 2020